- absolute Musik und Programmmusik: Tradition und Fortschritt
- absolute Musik und Programmmusik: Tradition und FortschrittKontroversen und Parteiungen bestimmten die öffentlichen Kunstdiskussionen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vorstellungen und Begriffe wurden dabei häufig zu Schlagworten vereinfacht, die die Phänomene kaum noch trafen und tendenzielle Unterschiede zu prinzipiellen Positionen ausweiteten. Bezeichnend hierfür ist der Streit zwischen zwei Stilrichtungen im deutschen Musikleben, die als konservativ beziehungsweise fortschrittlich einander gegenübergestellt wurden.Im programmatischen Sinne als »fortschrittlich« bezeichnete die »neudeutsche Schule«, ein Kreis von Musikern um Franz Liszt, ihre Kompositionshaltung. Liszts Wortprägung »Musik der Zukunft« und der Titel des vierten Bandes seiner gesammelten Schriften, »Aus den Annalen des Fortschritts«, verweisen auf seine These, dass die Musik zu neuen Ausdrucksformen fähig und aufgerufen sei. Richard Wagners Veröffentlichungen des Jahres 1849, »Die Kunst und die Revolution« und »Das Kunstwerk der Zukunft«, zielen in die gleiche Richtung. An die Öffentlichkeit gelangten die Ideen der neudeutschen Schule außer durch Liszt selbst auch durch die Werke und Schriften von Peter Cornelius Joseph Joachim Raff, Hans von Bülow und Carl Tausig, durch den 1861 in Weimar gegründeten Allgemeinen Deutschen Musikverein und durch die »Neue Zeitschrift für Musik«, nachdem Franz Brendel 1844 deren Redaktion übernommen hatte.Die Gegenseite, der Kreis um Johannes Brahms, entfaltete weit weniger literarische Aktivitäten. Dennoch gaben Brahms und seine Freunde, darunter Joseph Joachim, 1860 den entscheidenden Anstoß für die Kontroverse. Sie entwarfen eine - durch eine Indiskretion im »Berliner Echo« vorzeitig abgedruckte - Erklärung, in der sie »die Produkte der Führer und Schüler der »Neudeutschen« Schule. .. als dem innersten Wesen der Musik zuwider. .. beklagen und verdammen.« Später hat sich Brahms nie mehr in dieser Weise öffentlich geäußert, wie insgesamt die kämpferische Polemik mehr von den Parteigängern der führenden Komponisten als von diesen selbst ausging. Brahms' Achtung vor der Musik Wagners sowie Liszts großherzige Einstellung allem künstlerisch Bedeutenden gegenüber sind hierfür bezeichnend.Bereits eine Generation zuvor hatten sich ähnliche Polarisierungen entwickelt, vor allem zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und Hector Berlioz. Mendelssohn, dessen Musik klassizistische Züge mit einer romantischen Stilkonzeption vereint, besaß wenig Verständnis für den kühnen Neuerer Berlioz, auf den Liszt wiederum sich mehrfach programmatisch berief. Nicht so eindeutig zu bestimmen ist die Stellung Robert Schumanns in diesem Spannungsfeld. In seinen Schriften und Kompositionen zeigt sich ein Wandel von jugendlich »fortschrittlichem« Enthusiasmus zu einer eher traditionellen Haltung in den letzten Jahren. Auch war Schumann mit Liszt eine Zeit lang befreundet und bewunderte - anders als seine Frau Clara - dessen feuriges Musikertum.Aus heutiger musikgeschichtlicher Sicht ist Fortschrittliches und Traditionelles im 19. Jahrhundert nicht so leicht abzugrenzen, wie es den Miterlebenden erschienen sein mag. Manche Werke der Liszt-Nachfolge erweisen sich im Rückblick eher als zeitbedingt. Und umgekehrt gingen von den Brahmsschen Kompositionen zukunftweisende Impulse aus, wie dies Arnold Schönbergs Aufsatz »Brahms der Fortschrittliche« (1947) beispielhaft dokumentiert.Ästhetisch und gattungsgeschichtlich entspricht der »traditionelleren« und der »fortschrittlicheren« Stilrichtung das ebenso kontrovers verstandene Begriffspaar »absolute Musik« und »Programmmusik«. Es repräsentiert zwei Positionen der Musikanschauung, die beide von ihren Verfechtern mit unterschiedlicher Akzentsetzung aus dem Werk Beethovens abgeleitet wurden. Im einen Fall wird darauf verwiesen, dass der überwiegende Teil des Beethovenschen Œuvres die Priorität des rein Musikalischen bezeuge. Gelegentliche außermusikalische Komponenten seien demgegenüber zweitrangig. Die entgegengesetzte Position betont umgekehrt, dass Beethovens Musik als erste entscheidend über das Nurmusikalische hinaus zum Poetischen und Programmatischen tendiere. Verwiesen wird hierbei unter anderem auf Überschriften zu späten Streichquartetten, etwa zum 3. Satz von opus 132: »Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit«, oder dem Finale von opus 135: »Der schwer gefasste Entschluss«, auf Klaviersonaten (»Les Adieux«), auf die programmatischen Ouvertüren sowie auf die dritte (»Eroica«), die sechste (»Pastorale«) und die neunte Sinfonie, die als Wegbereiter der sinfonischen Dichtungen Liszts und der Musikdramen Wagners angesehen werden.Formuliert wurde die Ästhetik der »absoluten Musik« erstmals von Eduard Hanslick in seiner Schrift »Vom Musikalisch-Schönen« (1854). Deren zentraler Gedanke, »Inhalt und Gegenstand der Musik« seien allein »tönend bewegte Formen«, darf zwar nicht im Sinne eines leeren Formalismus missverstanden werden, verwirft aber mit der Betonung des »spezifisch Musikalischen« außermusikalische Anregungen als bedeutungslos für das Wesen einer Komposition. »Es ist ein spezifisch Musikalisches. Darunter verstehen wir ein Schönes, das, unabhängig und unbedürftig eines von außen her kommenden Inhaltes, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt.. .. Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es; denn nur sie ist reine, absolute Tonkunst.Demgegenüber postulierte Liszt 1855 in seinem Aufsatz »Berlioz und seine Haroldsymphonie« die Bedeutung der »poetischen Idee« für eine Musik, die sich von den Formen der Vergangenheit befreien und ein neues Kunstwollen dichterisch-philosophischer Prägung mit musikalischen Mitteln realisieren will. »Das gesungene Wort hat von jeher eine Verbindung zwischen der Musik und literarischen oder quasi-literarischen Werken veranlasst oder hervorgerufen. Das gegenwärtige Streben aber gilt der Verschmelzung beider, die eine innigere zu werden verspricht, als sie bis jetzt erreicht werden konnte. Die Meisterwerke der Musik nehmen mehr und mehr die Meisterwerke der Literatur in sich auf.Bei der klassischen Musik ist die Wiederkehr und thematische Entwicklung der Themen durch formelle Regeln bestimmt, die man als unumstößlich betrachtet, obwohl ihre Komponisten keine andere Vorschrift für sie besaßen als ihre eigene Fantasie, die man jetzt als Gesetz aufstellen will. In der Programmmusik dagegen ist Wiederkehr, Wechsel, Veränderung und Modulation der Motive durch ihre Beziehung zu einem poetischen Gedanken bedingt.«Musikalische Mittel - Thematik, Motivik, Melodik, Harmonik, Rhythmik - auf Werke der Poesie zu beziehen und sie mit literarischen »Gedanken« zu »verschmelzen«, heißt aber nicht, ihre innere Dynamik und Sinnstruktur zu verleugnen. Liszts sinfonische Dichtungen, seine programmatischen Sinfonien und viele seiner Klavierwerke sind dagegen überzeugende Beispiele dafür, dass Kompositionen diesen neuen Ideen folgen und dennoch in allen musikalischen Belangen stimmig konzipiert sein können.Prof. Dr. Peter SchnausDahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik. Basel u. a. 31994.Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.Dömling, Wolfgang: Hector Berlioz und seine Zeit. Laaber 1986.
Universal-Lexikon. 2012.